Forschung

Forschungsstandpunkt

Mein primäres Forschungsinteresse gilt soziologisch relevanten Makrophänomenen und empirisch fundierten Gesellschaftsanalysen. Zugleich verstehe ich mich als ›Mehrebenenforscherin‹, denn mich interessieren auch die Wechselbeziehungen zwischen der Makroebene der Gesellschaft – ggf. unter Berücksichtigung einer intermediären (z.B. der organisationalen) Mesoebene – und der Mikroebene der Individuen.

Eine mir wichtige Frage ist dabei auf den Makro-Mikro-Übergang gerichtet: Wie wirken sich gesellschaftliche Strukturen und Dynamiken auf individuelles Erleben, Entscheiden und Handeln aus? Ebenso interessant, jedoch herausfordernder in der empirischen Erforschung ist der Mikro-Makro-Übergang: Welche Wirkung geht von aggregiertem individuellen Erleben, Entscheiden und Handeln auf gesellschaftliche Strukturen und Dynamiken aus?

Die Einnahme einer solchen dualen Forschungsperspektive ist mir ein besonderes Anliegen.

 

Bisherige Forschungsschwerpunkte

Meine bisherigen Forschungsschwerpunkte lassen sich drei größeren Themenfeldern zuordnen:

1.

Individuelles Zeiterleben und Zeithandeln im gesellschaftlichen Kontext

Das Interesse an der soziologischen Zeitforschung entwickelte ich im letzten Drittel meines Studiums der Sozialwissenschaft. Seither befasse ich mich – mal mehr, mal weniger; je nach Zeit [sic!] – mit der Zeitthematik.

2.

Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse

Ungleichheitsthematische Fragen spielten – zumindest implizit – bereits im Zusammenhang mit der Zeitthematik eine Rolle (z.B. bei der Frage, welche Statusgruppen in besonderem Maß unter subjektivem Zeitstress leiden). Diese Fragen wurden von mir mit Beginn meiner Promotionsjahre verstärkt bearbeitet (u.a. im von Uwe Schimank und Nicole Burzan an der FernUniversität in Hagen geleiteten DFG-Projekt »Inklusionsprofile – eine differenzierungstheoretische Sozialstrukturanalyse der Bundesrepublik Deutschland«; Laufzeit: 07/2003 bis 06/2005) und während meiner Jahre als Habilitandin an der Universität Bremen weiter intensiviert.

3.

Wohlfahrtsstaatlichkeit im Wandel

Der Wohlfahrtsstaatsthematik widme ich mich seit Beginn meiner Tätigkeit an der Universität Bremen.

 

Aktuelle Forschungsschwerpunkte

Auch meine aktuellen Forschungsschwerpunkte lassen sich drei größeren Themenfeldern zuordnen:

1.

DFG-Projekt »Akademisch Beschäftigte ›in Bewegung‹: Eine methodenplurale Untersuchung des Zusammenhangs von sozialer und räumlicher Mobilität in der Wissenschaft«

In Wissenschaftskarrieren kommt räumlicher Mobilität eine hohe Bedeutung zu. Es stellt sich daher die Frage, welche konkreten Erwartungshaltungen bezüglich räumlicher Mobilität für einen sozialen Aufstieg innerhalb der Wissenschaft bestehen, wie diese wahrgenommen und bewertet werden und wie (Nachwuchs-)Wissenschaftler*innen mit ihnen umgehen. Des Weiteren ist zu fragen, wie Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen Mobilitätsbereitschaft, -ressourcen, -handeln und daraus resultierenden sozioökonomisch bedeutsamen Effekten aussehen.

Bei diesem ersten aktuellen Forschungsschwerpunkt handelt es sich um ein vom 01. Oktober 2020 bis 30. September 2023 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziertes dreijähriges Projekt, das an zwei Standorten bearbeitet wurde: an der Hochschule Niederrhein unter meiner Leitung, an der TU Dortmund unter der Leitung von Nicole Burzan (siehe hier).

Der empirische Zugang zu diesem ungleichheitstheoretisch und gegenwartsdiagnostisch gerahmten Projekt erfolgt methodenplural in Form einer quantitativen Sekundäranalyse (an der Hochschule Niederrhein) und jeweils einer quantitativen und einer qualitativen Vertiefungsstudie (an der TU Dortmund).

2.

»Die Gesellschaft der Ungleichen. Zur Entstehung und Unvermeidbarkeit von Ungleichheit – Eine Streitschrift« (Arbeitstitel einer Monografie)

Vor dem Hintergrund eines für die Spätmoderne charakteristischen Gleichheitspostulats löst sozioökonomische Ergebnisungleichheit bei vielen Menschen Unbehagen, nicht selten gar Empörung aus. Der Grund liegt auf der Hand: Ungleiche (Einkommens-)Ressourcen, die für wettbewerblich organisierte Gesellschaften kennzeichnend sind, wirken sich entscheidend auf die Lebens- und Partizipationschancen von Individuen aus und stellen daher eine der großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen dar. Entsprechend stehen insbesondere die Folgen von sozioökonomischer Ergebnisungleichheit im Mittelpunkt zahlreicher wissenschaftlicher und öffentlicher Debatten.

Eine stringente Erklärung für die Entstehung sozioökonomischer Ergebnisungleichheit lässt sich aus der meritokratischen Triade ableiten: Je höher die Bildung eines Individuums, desto tendenziell privilegierter sein Beruf – und desto tendenziell besser seine Einkommensmöglichkeiten. Bildung kommt demnach eine essenzielle, weil lebensweichenstellende Schlüsselrolle zu. Für die soziologische Ungleichheitsforschung steht dabei seit Langem fest, dass Bildungschancen sozialstrukturell alles andere als gleich verteilt sind.

Bemerkenswerterweise jedoch erschöpft sich der Mainstream soziologischer Ungleichheitsforschung bei der Erklärung ungleicher Bildungsteilhaben darin, die soziale Herkunft von Individuen in den Fokus zu stellen. Mit diesem Top-down-Blick, demzufolge Strukturen Entscheidungen, Handlungen und mithin Ergebnisse wesentlich determinieren, werden Individuen Handlungsfähigkeit und Eigenverantwortung weitgehend abgesprochen – und die Entstehung sozioökonomischer Ergebnisungleichheit gilt als hinreichend erklärt. Obgleich die Argumentationslinie »social origin → social destination« zweifellos hochgradig relevant und empirisch reichlich belegt ist, greift sie – als alleinige Begründung – zu kurz, um die Genese sozioökonomischer Ergebnisungleichheit zu erklären. Zielführender ist es, auf der Individualebene vier erklärende Faktoren heranzuziehen:

Soziale Herkunft

Dieser Faktor entspricht der vorherrschenden Perspektive der soziologischen Ungleichheitsforschung (siehe oben). Hierbei geht es vor allem um Aspekte wie sozioökonomischer Status der Eltern, Erziehung und Sozialisation sowie familiäres Umfeld.

Genetische Anlagen

Dieser Faktor bezieht sich auf ererbte kognitive und nicht-kognitive Fähigkeiten. Aufgrund der Neigung der Soziologie zu ›Biophobie‹ (die mit Entstehung und Entwicklung der Soziologie als Wissenschaftsdisziplin zu erklären ist) werden diese individuellen Merkmale in der soziologischen Ungleichheitsforschung jedoch häufig ignoriert.

Schicksal und Zufall

Dieser Faktor reicht über soziale und genetische Startbedingungen hinaus. Allerdings sind sowohl das Ausmaß als auch die Auswirkungen von Schicksal und Zufall schwierig zu quantifizieren. Aus diesem Grund werden ›Glück‹ bzw. ›Pech‹ – beispielsweise in Regressionsmo­dellen – regelmäßig als unaufgeklärtes Residuum in eine Art ›Quarantäne‹ verfrachtet.

Individuelle Handlungsfähigkeit innerhalb sozialer und natürlicher Strukturen

Dieser Faktor umfasst verschiedene Aspekte, soweit sie dem Entscheiden und Handeln eines Individuums – innerhalb natürlicher und sozialer Strukturen – zuzuordnen sind. Hierzu zählen u.a. erworbene motivationale und Persönlichkeitsfaktoren (z.B. Anstrengung und Ehrgeiz, Gewissenhaftigkeit oder Zeitperspektiven und Handeln in der Zeit, wie etwa der Verzicht auf Prokrastination oder die Praxis des Belohnungsaufschubs), aber auch die aktive Wahl eines vorteilhaften außerfamiliären Umfelds.

Hinzukommen Strukturen und Dynamiken auf organisational-institutioneller Meso- und gesellschaft­licher Makroebene, die zwar nicht im Zentrum meines Interesses im Rahmen dieses Buchprojekts stehen, gleichwohl aber mitbetrachtet werden müssen, weil Individuen eben in gesellschaftlichen Kontexten eingebettet handeln.

Bei diesem zweiten aktuellen Forschungsschwerpunkt handelt es sich um eine Monografie, die den soziologischen Forschungsstand wie auch jenen weiterer (Nachbar-)Disziplinen zusammenführt und reflektiert. Ich begann die Arbeit an diesem Buchprojekt während meines Forschungsfreisemesters im Wintersemester 2020/21, das ich an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS) verbracht habe. Derzeit setze ich diese Arbeit fort.

3.

Strukturen und Dynamiken von Ungleichheit und Wohlfahrtsstaat

Mit meinem dritten aktuellen Forschungsschwerpunkt knüpfe ich an die Themen an, die ich während meiner Zeit als Habilitandin an der Universität Bremen (07/2009 bis 03/2016) bearbeitete; dabei nehme ich drei Blickwinkel ein:

Erstens untersuche ich ländervergleichend und primär ungleichheitsthematisch, welche Auswirkungen sich verändernde sozioökonomische Kontexte auf Einstellungen von Individuen haben (z.B. im Hinblick auf Abstiegssorgen oder Umverteilungspräferenzen).

Zweitens interessieren mich – wiederum ländervergleichend und nun primär wohlfahrtsstaatsthematisch – die Effekte sozialpolitischer Interventionen auf Einstellungen von Individuen (z.B. ob Sozialinvestitionspolicies individuelle Einschätzungen sozialer Aufstiegsmöglichkeiten erhöhen).

Ein drittes Forschungsinteresse richtet sich auf die sozialen Mittelschichten: Weiterhin ländervergleichend gehe ich der Frage nach, welche Prägekraft von aggregierten subjektiven Stratifikationsvorstellungen – speziell von der Vorstellung, in einer Mittelschichtgesellschaft zu leben – ausgeht (z.B. in Bezug auf die Einschätzung gesellschaftlicher Konflikte). Stärker auf Deutschland fokussiert, widme ich mich Fragen nach objektiver Lage und subjektiver Befindlichkeit von Angehörigen der sozialen Mittelschichten.

In ländervergleichenden Analysen arbeite ich mit quantitativen Methoden (vor allem Mehrebenenanalysen) unter Nutzung hochwertiger Surveydaten wie beispielsweise den Daten des European Social Survey (Modul »welfare attitudes« aus den Jahren 2008 und 2016) oder des International Social Survey Programme (Modul »social inequality IV« aus dem Jahr 2009).

 

Mittel- und längerfristige Forschungsschwerpunkte

Mittel- und längerfristig möchte ich mich den folgenden vier auf meinen aktuellen Forschungsschwerpunkten aufbauenden Vorhaben zuwenden:

1.

Bedingungsfaktoren und -konstellationen gelingender beruflich motivierter ›Hypermobilität‹

Aufbauend auf dem derzeit laufenden DFG-Projekt mit Nicole Burzan plane ich die Beantragung eines Forschungsprojekts zum Umgang von Erwerbstätigen mit besonders hohen Anforderungen beruflich motivierter räumlicher Mobilität.

Diese Mobilitätsanforderungen sind aufgrund gravierender sozial- und arbeitsmarktstruktureller Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten – Stichworte: Erhöhung der Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und Zunahme der Beschäftigungs­unsicherheit, häufige Erfordernis zweier Einkommen –, deutlich gestiegen, und sie betreffen vor allem Angehörige der sozialen Mittelschichten. Hierbei interessieren mich die Bedingungsfaktoren und -konstellationen subjektiv gelingender beruflich motivierter ›Hypermobilität‹ (tägliches Fern- und Wochenendpendeln).

2.

Zeitwohlstand und Work/Life-Balance

Auch die seit meiner Studienzeit von mir verfolgte Zeitthematik bietet sich für eine stärker makrosoziologische Perspektive an: Zeitwohlstand ist – ebenso wie das eng damit verbundene Thema der Work/Life-Balance – ein subjektiver Indikator für Lebensqualität. Dieser Indikator individueller Wohlfahrt ist heute schon bedeutsam, und es ist davon auszugehen, dass er zukünftig noch weiter an Bedeutung gewinnen wird.

Zeitwohlstand und Work/Life-Balance sind allerdings nicht ausschließlich Fragen individueller Kompetenz und Lebensbedingungen, sondern stets auch von Einflussfaktoren höherer Analyseebenen (z.B. wohlfahrtsstaatlich-institutionell, kulturell oder arbeitsorganisational) geprägt.

Daher beabsichtige ich in diesem zweiten Forschungsschwerpunkt weitere empirische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Makro- und ggf. auch Mesostrukturen einerseits und individuellem Zeitwohlstand sowie individueller Work/Life-Balance andererseits.

Als Datengrundlage eignen sich – neben eigenen Erhebungen – vor allem die für zahlreiche europäische Länder verfügbaren Mikrodatensätze des European Quality of Life Survey und des European Working Conditions Survey.

3.

Eine Erweiterung der Perspektive auf die sozialen Mittelschichten

In Anbetracht jüngerer gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen Stichworte: Rechtspopulis­mus, aber auch Staats- und Regierungsskepsis im Zuge der COVID-19-Pandemie – bin ich der Auffas­sung, dass eine Mittelschichtsforschung, wie ich sie seit Längerem betreibe, sich nicht ausschließ­lich den nach wie vor im Zentrum stehenden Bevölkerungsgruppen widmen sollte, die sowohl etwas zu gewinnen als auch etwas zu verlieren haben, sondern auch jenen, die annehmen, den Anschluss an die Mitte der Gesellschaft bereits verloren zu haben und die deviante Verhaltensweisen zeigen. Es wird dabei wesentlich um Fragen der Legitimation und Akzeptanz sozioökonomischer Ungleichheit sowie soziokulturelle und Normalitätsabweichungsfragen gehen – und um den Eindruck der ›Wutbürger*innen‹, durch etablierte politische Parteien nicht (mehr) hinreichend repräsentiert zu werden.

Für diese Untersuchung bietet sich mit deliberativen Foren eine aus der Politikwissenschaft stammende qualitative Methode der Einstellungsforschung an: In dieser speziellen Form der moderierten Gruppendiskussion debattieren Angehörige unterschiedlicher Mittelschichtssegmente themenzen­triert beispielsweise über die Leitfrage, worauf die in politischen Wahlen zum Ausdruck gebrachte Unzufriedenheit in Teilen der Gesellschaft basiert. Zur Durchführung dieses Forschungsvorhabens beabsichtige ich perspektivisch die Beantragung eines Forschungsprojekts.

Alternativ kommt für eine Erhebung in Deutschland die Einreichung eines Proposals auf den jährlich ausgeschriebenen Call für das SOEP Innovation Sample in Frage. Im europäischen Kontext bietet sich – gemeinsam mit Kolleg*innen – ein Proposal auf einen »Call for Question Module Design Teams« im Rahmen des European Social Survey an.

4.

»Was klappt gut? Soziologische Betrachtungen gesellschaftlichen Funktionierens« (Arbeitstitel)

Die Überlegung, die sich hinter diesem Arbeitstitel verbirgt, ist folgende: Soziologie gilt im Allgemeinen als akademische Disziplin, deren primäres Anliegen darin besteht, gesellschaftliche Missstände und Dysfunktionalitäten zu benennen, zu erklären und zu verstehen. Doch welche soziologisch fassbaren Phänomene sind zu erwarten, wenn Soziolog*innen danach gefragt werden, in welchen Bereichen alltäglichen Zusammenlebens aggregiertes individuelles Entscheiden und Han­deln heute – im Vergleich zu früher – zu guten Resultaten, also zu gesellschaftlichen ›Wohlständen‹ führen? Mit dieser Forschungsfrage knüpfe ich an den eingangs skizzierten Mikro-Makro-Übergang an. Ich gehe davon aus, dass sich mit soziologischer Expertise auch aus gesellschaftlichem Gelingen Schlussfolgerungen über vorteilhafte Konstellationen, Mechanismen und Dynamiken ziehen lassen.

Hierzu plane ich entweder die Herausgeberschaft eines Sammelbandes oder die Inangriffnahme einer weiteren Monografie.